Außenseiter

Außenseiter der japanischen Gesellschaft

Der Beitrag zur ethnischen Homogenität des japanischen Volks hat gezeigt, dass die Japaner kein absolute homogenes Volk sind. Dafür spricht allein schon die Existenz der Ureinwohner, der Ainu. Sie sind die Nachfahren der ersten, steinzeitlichen Siedler des japanischen Archipels.
Sie unterscheiden sich teils in ihrer Physiognomie von den anderen Japanern. Aufgrund dieses Unterschieds und ihrer eigenständigen Kultur, wurden sie schon früh in der Geschichte unterdrückt und zurückgedrängt. Diese Aggression ging von einer dominanten Volksgruppe aus, den Yamato Japanern, die sich allerdings erst später auf den Inseln ausbreitete.
Aber sind die Ainu die einzige ethnische Gruppe, die bisher in der japanischen Gesellschaft marginalisiert wurde? Und gibt es darüber hinaus auch soziale Gruppen, die ähnliches erleben? Daher ein Blick auf die Außenseiter der japanischen Gesellschaft.

Ethnische Außenseiter

Japan ist heute kein typischen Einwanderungsland, wie etwa die USA, Kanada, Australien oder Deutschland. Trotzdem gibt es andere Volksgruppen/Ethnien, die in Japan leben. Doch woher kommen diese?
Nachdem Japan Teile Chinas ab Mitte des 19. Jh. und ganz Korea Anfang des 20. Jh. annektierte, sind auch größere Zahlen an Chinesen und Koreanern nach Japan gekommen. Viele davon in der Zeit von 1915 bis 1945. Allerdings kamen nicht alle freiwillig nach Japan, sondern auch als Zwangsarbeiter. Denn Japans Industrie entwickelte sich und benötigte billige Arbeitskräfte. Besonders ab 1937, als Japan Krieg mit China führte, und immer mehr Männer an die Front mussten.
Schließlich blieben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 viele Chinesen und Koreaner in Japan, weil eine Rückkehr in ihre Ursprungsländer entweder ungünstig oder gar unmöglich wurde.

Chinesen

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, herrschte in China noch bis 1949 Bürgerkrieg zwischen den Kommunisten und Nationalisten. Und zwischen 1966 und 1976 folgte die Kulturrevolution. Dies war eine Zeit der Verfolgung Andersdenkender. Also keine günstigen Bedingungen für eine Rückkehr. Daher leben in Japan heute ca. 655.000 ethnische Chinesen[1]. Die Hafenstadt Yokohama (Präfektur Kanagawa) ist berühmt für sein Chinatown (Abb. 1). Hier wechseln sich chinesische Restaurants mit Lebensmittelläden, traditionellen Apotheken und Heilpraktikern ab. Zudem gibt es dort Schulen, in denen Chinesisch unterrichtet und gesprochen wird.
Trotzdem sind die Bande zur alten Heimat der Urgroßeltern oder Großeltern inzwischen nicht mehr so stark. Weil die Generationen von Chinesen, die in Japan geboren wurden, dort zur Schule gingen und arbeiten, würden kaum eine Rückkehr ins kommunistische China mehr erwägen.

Yokohama Chinatown – Obwohl Japans Chinesen als Außenseiter gelten, bleiben sie ihrer Kultur treu
Abb. 1: Yokohamas Chinatown – Ausdruck der ethnischen und kulturellen Identität der in Japan lebenden Chinesen.

Koreaner

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Korea von den Siegermächten in zwei Besatzungszonen geteilt. Folglich bildeten sich zwei Staaten. Seitdem steht der kommunistische Norden dem demokratischen Süden feindlich gegenüber. Schließlich kam es 1950 zum Angriff Nordkoreas auf Südkorea. Bis 1953 tobte ein unerbittlicher Krieg, der zu Flüchtlingsströmen auf der koranischen Halbinsel führte. Wegen der Teilung und des Kriegs, blieben viele der Koreaner in Japan.
Heute leben in ganz Japan ca. 600.000 ethnische Koreaner. Z. B. gibt es in Tōkyō Bezirke, wo hauptsächlich Koreaner leben. Manche verdienen ihr Geld mit pachinko (Spielautomaten), Taxiunternehmen, Restaurants und Nachtklubs. Andere sind Mitglieder der japanischen yakuza (Verbrechersyndikate) geworden. Allerdings versuchen die meisten ethnischen Koreaner ein redliches Leben als Angestellte einer der vielen japanischen Firmen zu führen.

Zwischen Kultur und Politik

Ähnlich wie bei den Chinesen, gibt es auch koreanische Kultureinrichtungen. Allerdings besteht auch hier, ähnlich wie in der Heimat, ein politischer Graben zwischen den Koreanern. Weil die einen ihre Wurzeln im heutigen Nord- und die anderen in Südkorea haben.
Längst haben beide Gruppen auch politische Organisationen gebildet, die eine Interessenvertretung gegenüber japanischen Behörden sind. Einige der koreanischen Bildungseinrichtungen sehen sich dem kommunistischen Regime Nordkoreas nahe (Abb. 2), dass diese auch finanziell unterstützt. Zudem sind die chinesischen und koreanischen Kultureinrichtungen nach japanischem Gesetz förderwürdig. Nachdem sich aber die diplomatischen Beziehungen Japans zur Volksrepublik China, Nord- und Südkorea zwischen 2014 und 2020 verschlechtert haben, ist das Interesse an solcher Förderung nur noch gering.

Koreanische Schüler an einer koreanischen Schule in Tokyo
Abb. 2: Festhalten an der eigenen Kultur – Unterricht an einer koreanischen Schule in Tōykō. Über der Tafel die Bilder der Staatsführer Nordkoreas. Die Mädchen tragen den traditionellen Hanbok oder Chosonot.

Assimilation statt Integration

Manche ethnische Koreaner und Chinesen haben mittlerweile die japanische Staatsbürgerschaft angenommen, um nicht mehr als Außenseiter zu gelten. Hierzu mussten sie japanische Vor- und Nachnamen annehmen. Jedenfalls hofften viele von ihnen, so der latenten Diskriminierung und Benachteiligung sowie die Intoleranz im öffentlichen Leben (z. B. in Bildung und Beruf) zu entgehen.
Hingegen halten anderen bewußt an der eigenen Kultur fest. Trotzdem verschweigen sie ihre ethnische Herkunft, wenn möglich. Gerade weil sie japanisch sprechen, sich japanischen Gepflogenheiten angepasst haben und sich auch optisch wenig unterscheiden, sind Japaner oft überrascht, wenn sie erfahren, dass ein Chinese oder Koreaner vor ihnen steht. Deswegen kann nicht von einer inklusiven Integration die Rede sein. Lediglich eine Assimilation findet statt.
Erschwerend kommt hinzu, dass beide Gruppen in ihren eigentlichen Herkunftsländern nicht selten als „Japaner“ gelten, selbst wenn sie die chinesische, nord- oder südkoreanische Staatsbürgerschaft nicht abgelegt haben.

Soziale Außenseiter

Neben den ethnischen gibt es noch soziale bedingte Außenseiter in der japanischen Gesellschaft. Einige davon haben ihre Wurzeln tief in der Geschichte Japans und den religiös beeinflussten Vorstellungen der Menschen. Bis in die Edo-Epoche (1603 – 1867) bestand die Gesellschaft aus vier Ständen: den Herren, Bauern, Arbeiter und Kaufleute. Über diesen stand der Hofadel und Klerus, unter ihnen die Unberührbaren und Ureinwohner.
Heute zählt man Durchschnittliche Japaner zu den heimin (Normalbürgern). Einst gab es die strikte Trennung zwischen heimin und niederen Personengruppen, die aufgrund ihres Stands oder Berufs stigmatisiert waren. Beispielsweise, wenn sie einem unreinen Beruf nachgingen. Obwohl deren Außenseiterstatus längst überholten Regelungen geschuldet ist, scheint er ihnen hartnäckig anzuhaften. Heute sind viele Nachfahren dieser einstigen Randgruppen längst nicht mehr in den unrein Berufen tätig. Trotzdem bleiben sie sozial stigmatisiert, selbst im modernen Japan.

Burakumin

Von burakumin (Bewohner einer Sondergemeinde) spricht man, wenn man Personen aus einer Sondergemeinde meint. Denn im alten Japan waren die wachsenden Städte in Bezirke oder Gemeinden eingeteilt, in denen die vier Stände ihre Quartiere hatten. Schließlich bezeichnete man als buraku (Sondergemeinde) einst Wohngebiete in Städten, in denen die sogenannten hinin (w. Nicht-Menschen) oder eta (w. viel Schmutz) lebten.
Sie waren ohne Stand, weil sie schmutzigen Berufen nachgingen. Das waren z. B. Schlachter, Gerber, Latrinenreiniger, Totengräber oder Henker. Denn sie brachen religiöse (schintoistische und buddhistische) Tabus, wodurch sie als unrein galten. Weil Berufe aber vererbt wurden, erhielt sich diese Tabuisierung über Generationen bis 1871.
Obwohl sie dann im Zuge der Meiji-Reformen den heimin gleichgestellt wurden, blieb die Diskriminierung der burakumin im Alltag durch die heimin trotzdem erhalten[2].

Registriert und stigmatisiert

Vor allem in den bis 1871 geführten koseki (Haushaltsregistern) wurden die Berufe der Personen eingetragen bzw. die Zugehörigkeit zu einem Stand. Diese Register sind bis heute einsehbar. Z. B. prüfen manche diese Einträge, wenn sich eine Ehe anbahnt. Weil damit soll sichergestellt werden, dass die/der Auserwählte nicht ein/-e burakumin ist. Schließlich könnte dies dem Ansehen einer heimin-Familie schaden. Diese Art der Stigmatisierung sitzt tief, sodass manche Normalbürger sogar heute noch mit den burakumin nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Wegen solcher Bedenken vergewissern sich manche beispielsweise vor einem Umzug, dass ihre neue Adresse nicht in einem ehemaligen buraku liegt. Dafür gibt es alte Kataster, die darüber Aufschluss geben.

Folgen der Stigmatisierung

Die heutigen buraku in Tōkyō oder Ōsaka sind nicht selten recht heruntergekommene Viertel oder Bezirke. Somit spiegelt das äußere Erscheinungsbild auch den sozialen Status der Bewohner. Normalbürger meiden diese Orte, wenn möglich.
Die soziale Ausgrenzung und Benachteiligung hat schwerwiegende Folgen. Beispielsweise liegt der Prozentsatz an Sozialhilfeempfängern unter den burakumin über dem Landesdurchschnitt. Zudem ist das Bildungsniveau niedrig. Weil manche burakumin-Kinder schaffen teils die 6-jährige Grundschule nicht oder gehen auf keine weiterführenden Schulen. Dementsprechend schlecht sind die Chancen auf eine höherwertige und geregelte Arbeit und dadurch eine soziale Verbesserung. Für manche ist daher eine kriminelle Laufbahn der einzige Weg aus dem Elend.

Kampf gegen Diskriminierung

Die burakumin nahmen im 20. Jh. den Kampf gegen ihre soziale Ausgrenzung auf. Von 1922 bis 1942 existierte die Zenkoku Suiheisha (Nationale Vereinigung der Gleichen), die sich als politische Stimme der Außenseiter sah. 1946 gründete sich dann das Buraku Kaihō Zenkoku Iinkai (Buraku Befreiungsnationalkomitee). Allerdings konnte dieses aufgrund interner Machtkämpfe nicht alle burakumin unter sich vereinen. 1970 gründeten ausgetretene Mitglieder schließlich die Seijōkaren Buraku Kaihō Dōmei Seijōka Zenkoku Renraku Kaigi (Buraku Befreiungsliga Normalisierung Nationale Verbindungskonferenz), die der Vorläufer der heutigen Zenkairen Zenkoku Buraku Kaihō Undō Rengōkai (Buraku Befreiungsbewegung) ist[3].
Seit den 1920ern spielte Jiichiro Matsumoto (Abb. 3) hierbei eine tragende Rolle. Trotz seiner burakumin-Abstammung schaffte er es bis zum Politiker mit Sitz im Parlament. Zwischen 1947 und ’49 war er sogar Vizepräsident des Oberhauses.

Matsumoto Jiichiro gilt als Vater der Befreiungsbewegung der burakumin
Abb. 3: Matsumoto Jiichiro (松本治一郎, 1887 – 1966). Er gilt als “Vater” der Befreiungsbewegung der burakumin.

Unterstützung im Kampf

Die 1960er waren in Japan, ebenso wie im Westen, eine Zeit sozialer und politischer Unruhen sowie Veränderungen. Die burakmin in Japan bekamen in ihrem Kampf um Anerkennung und soziale Gerechtigkeit die Unterstützung christlicher Organisationen[4] oder teils von Künstlern und Intellektuellen.
So nahm z. B. die Folk-Band Akai Tori 1971 das Wiegenlied “Takeda no komoriuta” auf, dass seinen Ursprung unter den burakumin der Region um Kyōto hat. Es beschreibt das Leben eines burakumin-Mädchens, das im Haushalt wohlhabender Leute als Kindermädchen arbeiten muss. Schließlich erlangte das Lied große Popularität als Spiegelbild des Leids und der Armut dieser Menschen. Deshalb wurde es zu einer Art Kampflied dieser marginalisierten Außenseiter der Gesellschaft.

Tondatei: „Takeda no komoriuta” 竹田の子守唄, ein Volkslied der burakumin.
Mori mo iyagaru, bon kara saki nya,
守もいやがる盆から先にゃ、
yuki mo chiratsukushi, ko mo nakushi.
雪もちらつくし子も泣くし。
Ich hasse es, über das Bon-Fest hinaus das Baby zu hüten,
Schnee beginnt zu fallen und das Baby weint.
盆が来たとてなにうれしかろ、
Bon ga kita-tote, nani ureshi-karo,
かたびらはなし帯はなし。
katabira wa nashi, obi wa nashi.
Wie kann ich glücklich sein, auch wenn das Bon-Fest da ist?
Ich habe keine schöne Kleidung oder Schärpe, die ich tragen könnt.
この子よう泣く守をばいじる、
Kono ko yō naku, mori wo ba ijiru,
守も一日痩せるやら。
mori mo ichi-nichi yaseru-yara.
Dieses Kind weint unentwegt und ist gemein zu mir,
Ich werde dünner, weil das Baby den ganzen Tag weint.
早よも行きたやこの在所越えて、
Hayo-mo yuki-taya, kono zaisho koete,
向こうに見えるは親の家。
mukō ni mieru wa oya no uchi. (x2)
Ich würde schnell hier aufhören [wenn ich könnt’] und zurückgehen,
Zum Haus meiner Eltern, das ich in der Ferne sehen kann. (x2)
„Takeda no komoriuta” 竹田の子守唄, Text und Übersetzung.

Staatliche Maßnahmen

Der japanische Staat blieb nicht untätig. Schließlich gab es den Konsens unter Politikern, dass den burakumin geholfen werden muss. Also rief man als dōwa (w. Einvernehmen und Harmonie) bezeichnete Projekte ins Leben. Der Begriff wird oft als Synonym für Integration oder Assimilation verwendet. Offiziell sollten dōwa sich an alle sozial unterprivilegierte Außenseiter der Gesellschaft richten. Folglich wurde mit finanziellen und materiellen Zuwendungen sowie Sozialdiensten geworben. Allerdings kamen nur buraku in den Genuss dieser Projekte.
Bis heute haben dōwa-Projekte die Situation vieler burakumin verbessert. Jedoch blieben zwei grundlegende Probleme unangetastet – das der Menschenrechtsverletzungen und der Vorurteile. Insbesondere die Vorurteile gegenüber den burakumin halten sich hartnäckig in der Gesellschaft[5].

Diskriminierung trotz Gesetz

Obwohl die burakumin 1972 offiziell als unterprivilegierte Minderheit anerkannt wurden, betrachtet man die etwa 1,4 Mio. burakumin durch die Anti-Diskriminierungsgesetze als quasi nicht mehr existent. Ihrem gesellschaftlichem Staus als Außenseitern hat dies allerdings wenig geholfen.
Trotzdem fragten bisher Unternehmen bei Einstellungsgesprächen Bewerber nach ihrer Adresse. Als auch dies verboten wurde, ging man dazu über, nach der Bahnlinie und der Station zu fragen, mit welcher der Bewerber zur Arbeit fahren würde. Auch hieraus konnte man erkennen, wo jemand wohnt und ob es sich bei jenem Stadtteil oder Viertel um ein ehemaliges buraku handelt. Allerdings sind solche und ähnliche Fragen nun per Gesetz verboten.

Hibakusha

Mit den Atombomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki im Zweiten Weltkrieg kam eine weitere Gruppe von Außenseitern hinzu, die sogenannten hibakusha (Explosionsopfer). Denn manche Überlebende der Atombomben sind für ihr restliches Leben sichtbar gezeichnet gewesen. Allerdings erschienen die Folgen der unsichtbaren Strahlung bedrohlicher, weil Krebserkrankungen unter den Betroffenen zunahmen.
Folglich wird diesen und sogar deren Nachkommen bis heute mit sehr viel Misstrauen seitens der Bevölkerung begegnet. Obwohl dies absurd ist, fürchten viele die physischen Spätfolgen der Strahlung für die eigene Gesundheit. Außerdem könnte das Erbgut solcher Menschen geschädigt sein. Dies ist besonders bei der Familienplanung wichtig, weil niemand ein möglicherweise behindertes Kind möchte[6].

Yakuza

Die gefürchteten Außenseiter der japanischen Gesellschaft sind die yakuza. Denn sie sind das organisierte Verbrechen. Es gibt verschiedene Syndikate über das Land verteilt, die ihrem Namen das Anhängsel ~kai (~Gesellschaft) hinzufügen. Schließlich sind sie das auch, eine Gesellschaft in der Gesellschaft. Allerdings abseits des Gesetzes und daher eine Subkultur.
Die Ursprünge der yakuza liegen in der Edo-Zeit (1603 – 1868) in den Reihen der Glückspielsyndikate. Zulauf bekamen diese von Leuten, die durch das Raster der Gesellschaft gefallen waren, nachdem das Schicksal sich gegen sie wandte. Das konnten Bauern, Handwerker, Kaufleute oder burakumin sein. Außerdem auch samurai, aber nur dann, wenn sie ihre Dienststellung verloren und sich nichts besseres finden ließ.

Mob oder edle Ritter?

Die yakuza haben ein interessantes Selbstverständnis, weil sie sich als die letzten edlen Ritter einer durchweg verweichlichten und verwestlichten japanischen Gesellschaft sehen. Ein recht verklärtes Bild der harten Realität. Denn die yakuza von heute beziehen ihre Einnahmen aus Prostitution, Glücksspiel, Kreditwesen, Erpressung, Waffen-, Immobilien- und Drogenhandel. Also keine besonders ehrbaren Tätigkeiten, mit denen sich echte samurai von einst nie abgegeben hätten.
Inzwischen schrumpfen die Mitgliederzahlen der Banden aber. Denn das Gangsterleben ist zu hart und zu gefährlich für viele junge Japaner. Deshalb auch nicht attraktiv genug, selbst wenn man sozial weit unten steht. Außerdem setzt die Justiz den Banden mit immer härteren Gesetzen zu.
Um sich von den Normalbürgern als Außenseiter abzuheben, sind die meisten Bandenmitglieder traditionell tätowiert (Abb. 4). Ebenso sind fehlende Fingerglieder am kleinen oder Ringfinger ein Markenzeichen der Gangster. Bei jedem Verstoß gegen eine Bandenregel wird ein Fingerglied als Wiedergutmachung fällig, yubitsume genannt.

Yakuza zählen in Japan zu den gefürchteten Außenseitern
Abb. 4: Eventuell Mitglieder der Matsuba-kai in Tōkyōs Stadtbezirk Taitō-ku, die ungewöhnlich ihre Tätowierungen zur Schau stellen.

Mit der Zeit gehen

Heute versucht die jüngere Generation der yakuza mit der Zeit zu gehen. Einst trugen diese Außenseiter mit stolz ihre großflächigen Tätowierungen zur Schau, weil sie Mut bewiesen. Schließlich ist die Tätowierung nach traditioneller Methode langwierig und recht schmerzhaft. Danach wurden die Gangster aber immer öfter als Gäste von Hotels und Thermalbädern abgelehnt. Denn dies hätte die “normale” Kundschaft vergrault.
Um unter den Normalbürgern weniger aufzufallen, sind die Tätowierungen inzwischen auf den Oberkörper, Oberarme und Oberschenkel begrenzt. Dann kann man auch Shorts und kurzärmlige Hemden im Sommer tragen ohne gleich aufzufallen.
Auch die typischen Dauerlocken (Perma) und Goldkettchen, einst quasi Statussymbole, sind einem eher schlichtem, fast schon businesstauglichem Auftreten gewichen. Jetzt werden Designer-oder Maßanzüge, teure Mäntel, Uhren und Sonnenbrillen getragen.
Hingegen ist das yubitsume Geblieben. Jedoch verwenden viele Syndikatsmitglieder danach täuschend echte Fingerprothesen, weil fehlende Fingerglieder beim Business mit Normalbürgern diese eher abschrecken könnten.

Hikikomori

Eine relativ neue Gruppe von Außenseitern sind die hikikomori (w. [Menschen, diesich einschließen). Das sind junge Menschen, die sich im Elternhaus in ihre Zimmer zurückziehen und sich hauptsächlich mit mangaanime und PC-Spielen beschäftigen. Erstmals wurde dieses Phänomen vom Psychologen Saitō Tamaki (*1961) Anfang der 1980er beschrieben. Damals suchten lethargische und wortkarge junge Männer seine Hilfe.
Die häufigste Ursache sind Versagensängste. Ausgelöst werden diese durch die Überforderung mit dem Leistungs- und Erwartungsdruck in der japanischen Gesellschaft. Denn wer als Sonderling gilt, wird meist ausgegrenzt. Die Betroffenen reagieren dann mit dem räumlichen sowie psychischen Rückzug. Bedenklich wird es dann, wenn hikkikomori jeden Kontakt mit der Außenwelt oder sogar den Schulbesuch verweigern.
Zwar zeigten Untersuchungen, dass vor allem Männer betroffen sind, allerdings gehen die Zahlen weit auseinander. Vermutlich gibt es 100.000 bis 320.000 Fälle. Hingegen gehen andere Schätzungen von sogar 1 Mio. aus, wovon etwa 80% männlich und zwischen 13 und 30 Jahre alt sind[7].

Ursachen der Selbstisolation

Was löst bei jungen Leuten den Drang aus, sich selbst zu isolieren? Quasi Außenseiter aus eigenem Antrieb zu werden.
In der japanischen Gesellschaft herrscht ein hoher Erwartungs- und Leistungsdruck. Folglich sind Versagensängste einer der Hauptgründe für das Verhalten. Mit der Situation überforderte Eltern sehen meist keinen anderen Ausweg, als sich professionellen Rat bei Psychologen zu holen. Jedoch ist die Schwelle zu diesem Schritt oft sehr hoch, weil es ein Eingeständnis des eigenen Versagens ist. Zudem haben viele Angst vor dem Gerede der Nachbarn. Inzwischen schwindet auch das öffentliche Interesse und der Wille bei Politikern, sich mit diesen Verweigerern zu beschäftigen. Immerhin gibt es andere und dringendere Probleme in Japan. Die hikikomori sehen viele als Parasiten der Gesellschaft, weil sie nichts zum gesellschaftlichen Wohlstand oder Fortschritt beitragen[8].

Rojō-seikatsusha

Eine wenig wahrnehmbare Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter in Japan sind die rojō-seikatsusha, also Leute, die auf der Straße leben oder schlicht Obdachlose. Die Ursachen und Lebensläufe, die bei vielen zur Obdachlosigkeit führen, ähneln sich. Keine Arbeit, Probleme mit dem Ehepartner oder der Psyche, Verlust sozialer Kontakte, Alkohol- und Spielsucht oder eine hohe Verschuldung sind häufige Gründe. Währenddessen unterscheiden sich die meisten rojō-seikatsusha von westlichen Obdachlosen dadurch, dass sie möglichst unauffällig bleiben. Schließlich möchte man sein Gesicht wahren und andere mit der eigenen Misere nicht behelligen. Daher sieht man sie nur sehr selten betteln. Auch stehlen ist für viele keine Option. Jedoch gibt es religiöse und private Organisationen sowie Behörden, die sich dieser Menschen annehmen. Wobei manche auch diese Hilfe ablehnen, weil sie einem Eingeständnis des eigenen Versagens gleich kommt.

Randgruppe ohne Gesicht

In einem so wohlhabenden Staat wie Japan ist die Existenz von Obdachlosen ein gesellschaftlicher Makel. Daher redet man nicht offen darüber. Und deshalb haben die Betroffenen, überwiegend Männer, quasi kein Gesicht und keine Stimme in der Öffentlichkeit. Jedoch kann man die Pappkartons an den S- und U-Bahnhöfen der Metropolen am späten Abend kaum übersehen. Hierin hausen die Obdachlosen. Allerdings nur nachts. Wenn der morgendliche Berufsverkehr wieder beginnt, suchen sich die meisten einen anderen Ort.
Inzwischen haben sich auf den wenigen existierenden Brachflächen in Großstädten, z. B. an Flussufern, kleine Obdachlosensiedlungen gebildet. Hier zimmern sich die Betroffenen aus Pappe, Brettern und Planen festere Behausungen. Diese sind zwar im Prinzip illegal, werden aber von den Behörden geduldet, solang niemand dadurch gestört wird.

Trotz Arbeit obdachlos

Wer in Japan obdachlos ist, muss nicht unbedingt arm sein. Tatsächlich gibt es Menschen, die trotz Arbeit am oder sogar unter dem Existenzminimum leben. Tōkyō, Ōsaka, Nagoya, Fukuoka sind Großstädte, in den insbesondere das Wohnen teuer ist. Zudem sind die übrigen Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch. Deshalb bleibt Geringverdienern oder Tagelöhnern keine andere Wahl, als ohne festen Wohnsitz zu leben.
Somit entstand aus einer Notlösung auch ein Trend – übernachten im Internetcafé. Weil diese bieten neben gemütlichen Kabinen, günstigen Getränken, Snacks und Internet einen 24/7 Service. Das heißt, einen warmen und sicheren Ort für die Nacht. Hier werden auch keine unangenehmen Fragen gestellt.

Nikkei

Eine ähnliche Marginalisierung als Außenseiter erlebten japanischen Auswanderer, die allgemein nikkei (w. japanischer Herkunft) genannt werden. Besonders dann, wenn sie in der jüngsten Vergangenheit wieder nach Japan zurückzukehren versuchten.
Zwischen 1885 und 1894 siedelten ca. 29.000 Japaner nach Hawaii über. Andere gingen nach China, Korea und Guam. Dann, ab 1908, verließen viele Japan, um ihr Glück in Brasilien oder Peru zu versuchen. Die Auswanderung hielt in Wellen bis 1960 an. Heute leben ca. 1,5 Mio. nikkei in Brasilien. Inzwischen gibt es über 275.000 Brasilianer japanischer oder teils japanischer Abstammung in Japan. Denn sie deckten den Mangel an Arbeitskräften auf dem Bau und in der Industrie während der 1980er. Obwohl sie Nachkommen japanischer Auswanderer sind, hatten sie es dennoch schwer, weil manche nur noch schlecht oder kaum Japanisch sprachen. Überdies wurde ihrer Lebensweise als unjapanisch angesehen. Mit der letzten Finanzkrise zwischen 2007 und 2010 sind viele wieder nach Brasilien zurückgekehrt[9].

Integration und Identifikation

Die Rückkehr der brasilianischen nikkei nach Brasilien ist nicht allein mit der schlechteren Wirtschaftslage Japans zu erklären. Vielmehr war es der ständige psychische Druck, nicht als „echte Japaner“ angesehen zu werden.
Demzufolge zeigt das Beispiel der brasilianischen nikkei wie sehr Sprache und Lebensweise Integrations- und Identifikationsfaktoren sind. Insbesondere wird die sprachliche der kulturellen Identität gleichgesetzt. Daher glauben manche Japaner ernsthaft, dass Menschen einer anderen Ethnie oder Kultur niemals die japanische Sprache in Vollendung erlernen können. Als wenn dies sozusagen eine Frage der Gene wäre. Folglich bleiben sie ewig Fremde und Außenseiter der Gesellschaft. Das japanische Fernsehen liefert jedoch im Grunde genügend Gegenbeispiele. Schließlich gibt es eine Reihe an TV-Shows in denen immer wieder in Japan lebende Ausländer auftreten, die perfekt Japanisch sprechen.

Quellen

[1]   Vgl. Norbury, Paul: Culture Smart – Japan. The essential guide to customs & culture. Kuperard, Bravo Ldt. , London 2011, S. 48–51.

[2]   Vgl. Mayer, Hans J.: VII. Minderheiten: Probleme und Perspektiven. In Pohl, Manfred u. Mayer, Hans J. (Hg.): Länderbericht Japan. Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 355, Bonn 1998, S. 119ff.

[3]   Vgl. Kodansha (Hg.): Japan – An Illustrated Encyclopedia; Vol. 1 (A-L), 1st Edition, Kodansha Publishing, Tokyo & New York 1993, S. 147.
Vgl. 馬原鉄男:「新版 水平運動の歴史」部落問題研究所、1992年、S. 39。
Vgl. 黒川みどり・寺木伸明:「入門 被差別部落の歴史」解放出版社、2016年、S. 243 – 252. Vgl. 黒川みどり:「近代部落史 -明治から現代まで」平凡社新書、2011年、S. 192, 211, 227. Vgl. 部落解放同盟中央本部中央狭山闘争本部編:「無実の獄25年 狭山事件写真集」解放出版社、1988年、S. 126.

[4]   Vgl. Welt▪Sichten: Das schwere Erbe der Schlachter und Totengräber. Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit, 03.11.2009 (07.12.2022).

[5] Minority Stories: Buraku: Living with the lagacy of caste. Minority Rights Group International, Chapter 2 (07.12.2022).

[6]   Vgl. Mayer, H. J., 1998, S. 122.

[7, 8]   Vgl. Jones, Maggie: Shutting Themselves In. The New York Times Magazine, The New York Times Company, New York 15.01.2006 (20.06.2014), S. 1–6.
Vgl. Haghirian, Parissa: J-Management. Fresh Perspectives on the Japanese Firm in the 21st Century. iUniverse, Inc., New York, Bloomington, 2009, S. 102f, 113.

[9]   Vgl. Nakamura, Akemi: Brazil Emigration Centennial in Japan – Japan, Brazil mark a century of settlement, family ties. The Japan Times Online, Tokyo, January 2008 (10.06.2012).
Vgl. Bianconi, Nara: Nipo-brasileiros estão mais presentes no Norte e no Centro-Oeste do Brasil. JBB – Projeto incorporado ao Museo Histórico da Imigração Japonesa no Brasil, São Paulo 2008 (10.06.2012). [Nipo-Brasilianer sind vermehrt im Norden und mittleren Westen Brasiliens ansässig. JBB – Projekt in Zusammenarbeit mit dem Museum für die Geschichte der Immigration von Japanern nach Brasilien, São Paulo 2008 (10.06.2012).]

Bildquellen

Abb. 1 Bildquelle: pixabay.com. Bildautor: meguraw645. Public Domain.

Abb. 2 Bildquelle: © The New York Times: Koreans in Japan embrace the north as the world shuns it, 25.02.2019. Bildautor: Andrea DiCenzo/New York Times. Die Rechte am Bild liegen bei der New York Times. Es wurde nur zum Zweck der Veranschaulichung der im Text gemachten Aussagen hochgeladen!

Abb. 3 Bildquelle: Commons Wikimedia, aus 松本治一郎、講談社「昭和二万日の全記録1」より. Bildautor: Unbekannt, Mitte 1920er. Public Domain.

Abb. 4 Bildquelle: Commons Wikimedia. Bildautor: Jorge, 20.05.2007. Creative Commons Attribution 2.0 Generic.

Tondateien

Quelle: YouTube.com. Autor: © Akai Tori (赤い鳥), 1971; Goto Etsujiro, Arai Junko, Yamamoto Junko, Ōkawa Shigeru, Murakami Shuichi, Yamamoto Toshihiko, Watanabe Toshiyuki, Hirayama Yasuyo. Plattenlable: Liberty (EMI Records). Die Rechte am Lied liegen bei Akai Tori/Liberty (EMI). Es wurde nur zum Zweck der Veranschaulichung der im Text gemachten Aussagen hochgeladen!