Kultureller Rahmen

Japan als Mysterium?

Was ist der kulturelle Rahmen Japans? Als kultureller Rahmen können Aspekte einer Kultur verstanden werden, die sie am ehesten charakterisieren. Allerdings begegnen wir hier einem Problem, weil Außenseitern die japanischen Kultur bis heute oft unverständlich oder gar unergründlich erscheint.
Einerseits haben wir heute Zugang zu Informationen wie nie zuvor. Andererseits ist das Reisen einfacher geworden. Trotzdem kursieren im Westen über Japan noch immer viele falsche oder veraltete Vorstellungen. Wie kann das sein, wenn doch der Westen schon volle 400 Jahre mit Japan in Kontakt steht? Reichte die Zeit nicht, sich ein akkurates Bild von der Kultur Japans zu machen? Interessanterweise beginnt schon im 17. Jh. die europäische Japanforschung. Aber ein breites Kulturwissen über Ostasien oder Japan ist bei uns dennoch nicht vorhanden. Damit beschäftigen sich nur Experten. Daher möchte ich auf einige grundlegende Aspekt eingehen, welche die japanische Kultur charakterisieren.

Ein Land der Gegensätze

Als kultureller Rahmen Japans können z. B. die oft anzutreffenden Gegensätze betrachtet werden. Die US-amerikanische Kulturanthropologin Ruth Benedict (1887 – 1948) erkannte, dass es eine Fülle an Gegensätzen in der japanischen Kultur gibt. In der westlichen Kulturforschung gibt es kein Land, das mit so vielen „Aber-auch“-Formulierungen beschrieben wurde, so Benedict, welche die Gegensätze zu erfassen und beschreiben versuchten[1]. Einerseits sind die Japaner im bestimmten Rahmen sehr höflich und bescheiden. Andererseits können sie aber außerhalb diesem sehr rüde und überheblich sein. Sie sind zwar sehr anpassungsfähig, aber mitunter doch sehr starrsinnig. Außerdem sind sie feinfühlig, was sich in ihrer raffinierten Kunst und Ästhetik ausdrückt. Hingegen waren sie auch ein Volk, das mit unglaublicher Brutalität Krieg führte. Dies sind nur einige Beispiele.

Eine “high context” Kultur

Aber was ist der komplizierteste Aspekte, der den kulturellen Rahmen Japans bestimmt? Sicherlich die Eigenschaft eine “high context” Kultur zu sein. Wenn man Kulturen auf den Ebenen der Denk-, Handlungs- und Kommunikationsweise betrachtet, dann lassen sie sich entweder als „high context culture“ („Kulturen mit hohem Kontext“) oder „low context culture“ („Kulturen mit niedrigem Kontext“) charakterisieren. Der US-amerikanische Soziologe und Kulturanthropologe Edward T. Hall (1914 – 2009) formulierte diese Begriffe erstmals 1976 in seinem Buch „Beyond Culture“[2].

Was ist Kontext?

Was bedeutet “Kontext” in Bezug auf die Kommunikation? Kontext ist die Information, die ein Ereignis umgibt. Diese Information ist untrennbar mit der Bedeutung des Ereignisses verbunden. Die Elemente, die zusammen eine bestimmte Bedeutung ergeben – Ereignisse und Kontext – stehen je nach Kultur in unterschiedlichem Verhältnis zueinander[3].
Was Hall mit Kontext meinte, ist das nötige (kulturelle) Hintergrundwissen, um verbale und nonverbale Kommunikation richtig zu verstehen. Der Kontext wird zudem vom Zusammenhang oder Rahmen, in dem etwas gesagt oder getan wird, und die soziale Stellung der miteinander Kommunizierenden beeinflusst.

Low vs. high context culture – was ist das?

Eine “low context culture” kann auf Deutsch auch als explizite* Kultur bezeichnet werden. Die “high context culture” auch als implizite** Kultur. Aber was genau kennzeichnet eine “low context” und “high context culture”? Was unterscheidet beide voneinander? Vor allem in der Kommunikation zwischen Personen zeigt sich der Unterschied.

Low context culture:
Man sagt, was man denkt, in klaren Worten, ausdrücklich und eindeutig. Die Sache oder Absicht/Aussage bzw. das was man sagt ist wichtig. Die Form, wie man etwas sagt, oder Rang und Stellung des Gegenüber sind dagegen von geringerer Bedeutung. Außenstehenden erschließt sich der Sinn durch die in Worten oder Gesten enthaltenen Informationen.

High context culture:
Wie man etwas sagt ist wichtiger als was man sagt. Die Stellung von Personen spielt eine besondere Rolle und bestimmt das “wie”, die Form der Kommunikation. Je nach Ereignis werden nicht alle Informationen kommuniziert, weil vorausgesetzt wird, dass andere informiert sind. Außenstehenden erschließt sich der Sinn nur dann, wenn sie den gleichen Informationsstand oder das kulturspezifische Wissen haben.

(* Ausdrücklich, klar, eindeutig, ausführlich. ** Gemeint, aber nicht ausdrücklich gesagt; nicht aus sich selbst zu verstehen, sondern durch kulturspezifisches Wissen)

Ein Land der kulturellen Distanz

Japan ist ein Land mit hoher kultureller Distanz zu Europa. Die kulturelle Distanz beschreibt die Menge und Tiefe an Unterschieden zwischen Kulturen. Hierzu werden z. B. die Abstammung, Sprache, Schrift, Glaube, Brauchtum, Werte und Normen betrachtet. Das heißt, je kleiner die Summe der Gemeinsamkeiten, umso höher die kulturelle Distanz.
Vergleicht man Deutschland mit Österreich und Japan, dann empfinden Deutsche in Österreich eine sehr geringe kulturelle Distanz. Denn sie verstehen oder teilen Sprache, Abstammung, Glaube und teils das Brauchtum. In Japan hingegen, ergibt sich eine sehr viel größere Summe an Unterschieden und damit eine deutlich höhere kulturelle Distanz.

Bei anscheinenden Gemeinsamkeiten ist jedoch Vorsicht geboten! Denn hinter vertrauten Handlungsmustern stecken nicht zwangsläufig die gleichen Denkweisen. Dies wird nicht selten unterschätzt. Wer ohne Vorkenntnisse auf die Kultur Japans trifft, kann gegebenenfalls von ihr überrascht oder sogar erschreckt werden, also den Kulturschock erleben. Dies liegt nicht zuletzt auch an den vielen Vorurteilen und Klischees, die im Westen über Japan hartnäckig existieren.

Nur eine Kopie Chinas?

Japan ist nur eine Kopie Chinas. Klischee oder Wahrheit? Tatsächlich stand Japan lange im Schatten seines mächtigen und kulturell schon früh hoch entwickelten Festlandnachbarn. Aber war es nur der chinesische Einfluss, der Japan zu dem machte, was es heute ist? Historisch scheint es zumindest einige Anhaltspunkte zu geben, die diesen Schluss zulassen. Denn die Japaner haben einige kulturelle Errungenschaften Chinas übernommen, die tatsächlich einen nicht unerheblichen Einfluss auf ihre eigene Kultur ausübten.

Assimilierte Errungenschaften

Da wären bspw. das Verwaltungssystem und der Konfuzianismus zu nennen. Beides diente der Schaffung einer ausgeklügelten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, wie es ein wachsendes Reich dringend benötigte.
Dann die chinesische Schrift, die über Korea nach Japan kam. Die Einführung der chinesischen Schrift war von besonderer Bedeutung, weil über sie Buddhismus und Konfuzianismus schnell verbreitet werden konnten. Generell erkannte man die Vorteile der Schrift und nutzte sie überdies für profanere Dinge. Hierfür passte man sie an die japanische Sprache an.
Daher bezeichnen Kulturforscher Japan oft als „Mondkultur“. Denn der Mond leuchtet nicht aus eigener Kraft, sondern nur, weil er das Licht der Sonne reflektiert. Somit wäre das japanische Volk als eines ohne eigenständige Kultur zu verstehen, da es unter dem kulturbildenden Einfluss des mächtigen Nachbarn stand. China war die Sonne, die das Licht ausstrahlt, auf das Japan angewiesen war, um selbst zu erlstrahlen.

Abnabelung vom Vorbild

Der Einfluss der kontinental-asiatischen Kulturen, genauer der Chinas (als Vorbild) und Koreas (als Mittler), ist unbestreitbar. Daraus lässt sich jedoch keinesfalls simpel ableiten, wie an den oben genannten Beispielen deutlich wurde, dass Japans Kultur und Gesellschaft nur ein Abbild des mächtigen Nachbarn China seien. Im Gegenteil. Die Machtpolitik und das wirtschaftliche Interesse Chinas wandten sich nach Südostasien und Korea, nicht jedoch nach Japan[4].
Allerdings füllten die fremden Einflüsse Lücken in der Kultur Japans. Weil dort aber andere Verhältnisse herrschten als in China (oder Korea), war es nötig, Veränderungen durch Weiterentwicklungen, Reformen oder Anpassungen vorzunehmen. Damit erhielten die Kulturimporte eine japanische Ausprägung, was sie zu viel mehr als bloßen Kopien machte.

Maßstab der Eigenständigkeit

Ein weiterer Aspekt des kulturellen Rahmens ist die Eigenständigkeit. Soziologisch betrachtet, sind Völker oder Kulturen eigenständig, wenn sie bestimmte Eigenschaften aufweisen oder Kriterien erfüllen.
So muss z. B. ein Volk eine historisch gewachsene Gemeinschaft sein, die sich seit der Besiedlung ihres Lebensraums selbst reproduziert hat. Ebenso muss es sich bzw. seinem Lebensraum einen Namen gegeben haben, der sich definitiv von jenen der Nachbarländer unterscheidet. Und schließlich muss es über eine spezifische Kultur (Sprache, Gesellschaftsstruktur, Mythen, Religion und Brauchtum) verfügen, die sich ebenfalls von anderen unterscheidet.
Für das japanische Volk treffen all diese Eigenschaften/Kriterien zu, womit es ohne jeden Zweifel als kulturell eigenständig zu betrachten ist.
Ein gewisses Maß an Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen schmälert nicht deren Eigenständigkeit. Denn in den meisten Kulturen der Welt sind Fremdeinflüsse nachweisbar.

Quellen

[1]   Vgl. Benedict, Ruth: Chrysantheme und Schwert – Formen der japanischen Kultur. Edition Suhrkamp, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006, S. 11f.

[2]   Vgl. Hall, Edward T.: Beyond Culture. Anchor Books, A Division of Random House, Inc., New York 1976, S. 85 – 128.

[3]  Vgl. Edward T. Hall and Mildred Reed Hall: Understanding Cultural Differences. Germans, French and Americans. Intercultural Press, Inc., Boston 1990, S. 6f.

[4]   Vgl. Ladstätter, Otto u. Linhart, Sepp: China und Japan – Die Kulturen Ostasiens. Verlag Carl Ueberreuter, Wien u. Heidelberg 1983, S. 253.